Montag, 30. November 2015

Mein 1. Quartalsbericht

Das hier ist mein 1. Quartalsbericht, den ich an meinen Rotary Club in Deutschland geschickt habe und ich dachte mir, ich stell den einfach auch mal hier rein.

Oi, tudo bem?
Das ist die Standartbegrüßung hier in Brasilien und bedeutet so viel wie „Hallo, alles klar?“.
Es ist unglaublich schwer diese fast vier Monate kurz zusammen zu fassen.
Auf der einen Seite kommt es mir vor als wäre es schon eine Ewigkeit her, dass ich mich schweren Herzens am Flughafen von meiner Familie verabschiedet habe und in den Flieger ins Unbekannte gestiegen bin, aber auf der anderen Seite habe ich das Gefühl es wäre erst gestern gewesen. Das Gefühl als ich dann in Sao Paulo angekommen bin und meine Gastfamilie zum ersten Mal gesehen habe war unbeschreiblich. Am nächsten Tag haben wir uns dann auf den Weg nach José Bonifácio gemacht, wo ich dieses Jahr über wohnen würde. Schon auf dem Weg dorthin hat mich die Natur einfach total begeistert. Es ist so wunderschön hier!
José Bonifácio ist eine kleine Stadt mit ca. 35.000 Einwohnern. Die Angebote sind hier zwar ziemlich begrenzt, aber ich habe mit Zumba angefangen, was ich mehrmals die Woche machen kann und ich habe diese Stadt in der letzten Zeit wirklich ins Herz geschlossen.

Zu meiner ersten Gastfamilie gehören meine Gastmutter Lucilene, mein Gastvater Osvaldo, mein Gastbruder Bruno (15) und meine Gastschwester Ludmila (17), die aber zur Zeit ein Auslandsjahr in Dänemark macht.
In dieser Familie habe ich drei einhalb Monate gewohnt. In der ersten Zeit hat alles gut geklappt, aber in den letzten zwei Monaten wurde es immer schwieriger, vor allem mit meinem Gastvater. Es sind viele Sachen zusammen gekommen, die aber alle dazu geführt haben, dass ich mich in dieser Familie einfach nicht mehr wohl gefühlt habe. Die Stimmung insgesamt war angespannt und von meinem Gastvater habe ich irgendwann nur noch zu hören gekriegt, was ich irgendwie falsch mache. Mit meinem fast gleichaltrigem Gastbruder habe ich es nicht geschafft eine Beziehung aufzubauen, obwohl ich es versucht habe. Doch er redet nicht viel, mit niemandem, und verbringt seine Zeit vor dem Fernseher. In dieser Zeit ging es mir ziemlich schlecht, was auch dazu geführt hat, dass ich meine Familie in Deutschland doller vermisst habe. Trotz allem würde ich es nicht als richtig dolles Heimweh beschreiben, denn nach wie vor konnte ich mir nicht vorstellen zurück nach Deutschland zu wollen.
Trotzdem hat mir diese Familie eine Menge ermöglicht, wofür ich auch dankbar bin. So sind wir zum Beispiel zu den Iguacu Wasserfällen im Süden von Brasilien gefahren, was ein sehr großer Traum von mir war. Ich glaube, wenn man nicht selbst dort gewesen ist, kann man sich dieses atemberaubemde Gefühl dort zu stehen gar nicht vorstellen. Außerdem haben sie mich mit nach Sao Paulo genommen, als meine Gasteltern dort beruflich etwas erledigen mussten und wir waren ein paar Mal auf unserer „Farm“. Fast jede Familie hat hier ein Haus in der Natur, wo oft die Wochenenden verbracht werden.

Am 21. November habe ich dann meine Gastfamilie gewechselt. Die letzte Zeit in meiner ersten Gastfamilie war nach wie vor nicht gut und so habe ich mich sehr auf diesen Wechsel gefreut, obwohl ich auch etwas nervös war. Die Verabschiedung von meiner ersten Gastfamilie war dementsprechend auch ziemlich unspektakulär. Ich bin jedoch froh, dass ich noch die Chance hatte mit meiner Gastmutter zu reden, mich zu bedanken und mich auch zu entschuldigen, denn für sie war die letzte Zeit auch nicht einfach. Wir haben uns immer gut verstanden und ich mag sie sehr gerne.

Meine zweite Gastfamilie kannte ich schon, da meine Gastschwester Isabela (16) auf der gleichen Schule ist wie ich. Meine Gastmutter Selma und mein Gastvater Sergio sind unglaublich lieb und ich habe mich hier gleich wohlgefühlt. Mein 19-jähriger Gastbruder Guilherme studiert in einer anderen Stadt und deshalb kenne ich ihn noch nicht. Da er jedoch bald Semesterferien hat, kommt er uns dann besuchen. Unser Haus hier ist sehr klein, meine Gastfamilie hat wirklich nicht viel Geld und ich teile mir mit meiner Gastschwester ein Zimmer. Das alles ist jedoch nebensächlich, denn ich fühle mich hier in so kurzer Zeit schon zu Hause. Auch dass ich mir mit meiner Gastschwester ein Zimmer teile, finde ich mitlerweile sogar richtig gut. Wir verstehen uns super und man ist einfach nie alleine, auch wenn gerade jeder sein eigenes Ding macht. Außerdem glaube ich, dass es die Neziehung auch stärkt. Ich bin so froh sie zuu haben, da sie mir vieles erleichtert. Hier haben wir im Gegensatz zu meiner ersten Gastfamilie auch keine Putzfrau und so helfe ich mehr im Haushalt mit, was ich aber auch selbstverständlich finde.
Ich bin seit einiger Zeit wieder total glücklich und merke erst jetzt so richtig, dass es mit meiner letzten Gastfamilie insgesamt einfach nicht gepasst hat. Aus meiner jetzigen Gastfamilie würde ich am liebsten gar nicht mehr weg.

Eine Sache die mich hier sehr stört (vor allem in meiner ersten Gastfamilie) ist das ständige Fernsehen. Meine Gastfamilie hat es zum Teil geschafft, dass ganze Wochenende vor dem Fernseher zu sitzen und konnte nicht wirklich verstehen, dass ich das nicht kann. Es ist dabei auch nicht so wichtig was läuft, sondern dass der Fernseher überhaupt an ist.
In meiner neuen Familie ist das ein bißchen besser, aber der Fernseher läuft hier in fast jedem (natürlich nur soweit ich das beurteilen kann) Haushalt ständig.
Natürlich weiß ich, dass ich die Austauschschülerin bin und mich anpassen muss. Jedoch habe ich nur eine begrenzte Zeit in diesem Land und möchte diese auch gerne nutzen.

Es fällt mir schwer mein Portugiesisch selbst einzuschätzen, aber ich verstehe einfach immer mehr. Da ich den ganzen Tag quasi nur Portugiesisch höre, habe ich auch gar keine andere Möglichkeit als diese Sprache irgendwie zu lernen. Manchmal merke ich auf einmal, dass ich eine bestimmte Sache ausdrücken kann, ohne dass ich es vorher wusste. Verstehen ist jedoch nach wie vor viel einfacher als selber zu sprechen. Was noch sehr schwierig ist, ist einer Unterhaltung mit mehrern Leuten zu folgen. Da passiert es immer noch, dass ich ganz oft einfach nichts verstehe. Und es gibt immer noch so viel zu lernen! Aber ich denke, ich bin auf einem ganz guten Weg.

Die Schule hier in Brasilien ist so ungefähr das genaue Gegenteil von der Schule in Deutschland. Es ist viel weniger streng und das Verhältnis zu den Lehrern ist eher freundschaftlich, was bedeutet, dass ich sie einen zur Begrüßung umarmen und sogar Fotos auf Facebook komentieren. Anfangs war das alles echt ein bißchen ungewohnt für mich, aber mitlerweile kann ich mir das anders gar nicht mehr vorstellen. Der Unterricht hier ist jedoch größtenteils Frontalunterricht und es wird sehr wenig praktisch gearbeitet.
Hier in Brasilien ist es sehr verbreitet auf Privatschulen zu gehen, da die öffentlichen Schulen sehr schlecht sind. Die Privatschulen sind sehr klein und so gibt es in meinem Jahrgang nur eine Klasse mit 20 Schülern.


Jeden Mittwoch, bis auf den letzten Mittwoch im Monat, findet das Rotary Meeting statt. Es ist ziemlich anders als in Deutschland und man trifft sich nicht in einem Restaurant, sondern in einer Art Halle. Ich mag die Meetings echt gerne und die Leute dort sind so nett! Dort gehe ich meistens zusammen mit meiner Gastschwester hin. Meine Schwester ist Präsidentin von Interact, das ist die Jugendgruppe von Rotary. Die Treffen finden jeden Dienstag statt und dort gehe ich auch jede Woche hin. Anschließend gehen wir immer alle zusammen Pastel essen. Dazu gibt es meistens Guaraná zu trinken. Das ist ein brasilianischer Softdrink und schmeckt so gut!

Wir sind hier drei Austauschschüler. Ein Mexikaner, eine Amerikanerin und ich. Der Mexikaner und ich sind zusammen in einer Klasse, aber außerhalb der Schule machen wir nicht so viel zusammen. Auch in der Schule probiere ich nicht die ganze Zeit mit ihm etwas zusammen zu machen, was mir auch gut gelingt. Da die Amerikanerin Probleme mit ihrem Visum hatte, ist sie erst letzte Woche angekommen. Wir haben uns auch schon getroffen und verstehen uns sehr gut. Ich bin sehr froh, dass sie jetzt da ist, denn andere Austauschschüler verstehen einen einfach so gut.

Mit den anderen Austauschschülern aus meinem Distrikt habe ich nicht wirklich etwas zu tun, da sie halt alle in anderen Städten wohnen und es ziemlich kompliziert ist dorthin zu kommen. Im September hatten wir jedoch eine Orientation und Anfang Dezember werden wir uns alle in einem riesigen Wasserpark treffen.


In der Zeit vor meinem Auslandsjahr habe ich mir viele Gedanken über Brasilien gemacht und mir probiert vorzustellen, wie es ist dort zu leben. Viele dieser Vorstellungen ensprechen der Wahrheit. Ich habe in meinem ganzen Leben wahrscheinlich noch nie so aufgeschlossene Menschen kennen gelernt. Es spielt keine Rolle, ob man sich zum ersten Mal sieht – man wird gleich überschwänglich begrüßt. Außerdem habe ich festgestellt, dass die meisten Brasilianer Leute aus anderen Ländern lieben und unglaublich interessiert sind. Das macht es natürlich sehr leicht neue Kontakte zu finden und ich kenne hier schon unglaublich viele Leute. Jedoch wird der Begriff „Freund“ hier ganz anders benutzt als ich es aus Deutschland gewohnt bin. Deshalb hat man schnell ganz viele „Freunde“, aber um die richtigen echten Freunde zu finden braucht es viel mehr Zeit.
Trotzdem liebe ich diese Aufgeschlossenheit und Lebensfreude einfach. Es wird so viel getanzt und gesungen und den Leuten hier ist einfach viel weniger unangenehm als in Deutschland. Ich finde mitlerweile, dass die Leute in Deutschland ruhig ein bißchen lockerer sein könnten. Diese Unbeschwertheit werde ich wenn ich wieder komme sehr vermissen.
Am Wochenende geht man abends oft mit Freunden aus. In meiner Stadt gibt es einen Platz, wo sich abends ganz viele Jugendliche treffen, Eis oder Hotdog essen und einfach Zeit zusammen verbringen. Das kannte ich aus Deutschland nicht, jedoch gefällt es mir sehr gut.
Mitlerweile war ich schon auf zwei 15. Geburtstagen, die hier eine sehr große Sache sind. Und da wurde mir dann bestätigt, dass es nicht nur ein Cliché ist, dass die Brasilianer so gut tanzen können. Ich habe keine Ahnung vom Tanzen, aber in solchen Momenten muss man seine Zweifel einfach überwinden und mitmachen. Ich denke, das ist auch eine Sache, die ich hier gelernt habe. Dass man Dinge einfach macht, auch wenn sie einem anfangs unangenehm sind. Dass man einfach „ja“ sagt und alles ausprobiert. Egal worum es geht.



Die letzte Zeit ist nicht nur einfach und schön gewesen, manchmal sogar genau das Gegenteil. Es gibt immer wieder diese Momente, in denen man an sich selbst zweifelt und sich fragt, wie man das alles schaffen soll. Dann gibt es aber auch wieder diese Momente, in denen man vor Glück Tränen in den Augen hat.
In der Zeit, die ich jetzt hier bin habe ich schon so viel gelernt.
Es gibt diese typischen Gründe, warum man ein Auslandsjahr machen will. Eine neue Kultur kennen lernen, eine andere Sprache lernen, sich verändern und entwickeln. Und ja, es ist unglaublich interessant und spannend, die brasilianische Kultur kennen zu lernen. Hier ist einfach alles so anders und das ist wahrscheinlich der Grund warum ich von dem allen so begeistert bin. Doch ich bin mir mitlerweile sicher, dass es mindestens genauso wichtig ist, dass man dabei etwas über sein Heimatland lernt. Wenn ich ehrlich bin, mochte ich Deutschland nie so richtig gerne. Jedoch weiß ich viele Dinge jetzt einfach viel mehr zu schätzen. Wie unabhängig ich dort bin und beispielsweise einfach mal mit dem Zug oder Bus in eine andere Stadt fahren kann. Züge gibt es hier nicht und selbst mit dem Bus darf ich nicht fahren, weil es zu gefährlich ist. Aber vor allem wird mir so richtig deutlich klar, wie glücklich ich mich schätzen kann, so eine tolle Familie und so gute Freunde zu haben, die immer für mich da sind. Aber ich vermisse manchmal auch so kleine Dinge wie ein Butterbrot zum Abendessen oder Kälte. Ich habe zwischendurch immer mal Kontakt zu Deutschland, doch da ich nicht rund um die Uihr mir ihnen schreibe, finde ich das ist auch normal. Skypen tue ich unregelmäßig, aber mitlerweile nur noch selten. Natürlich vermisse ich ab und zu meine Familie und Freunde. Doch die Zeit vergeht so schnell und ich weiß, dass ich sie ja nächstes Jahr alle wieder sehen werde.
Deutschland, das Münsterland, ist meine Heimat – das weiß ich jetzt.
Jedoch wird es auch so viele große und kleine Dinge, die ich an Brasilien vermissen werde, wenn ich wieder zurück bin. Und wahrscheinlich werden das auch die Dinge sein, die ich jetzt noch gar nicht so bewusst wahrnehme.
Denn auch Brasilien ist jetzt meine (zweite) Heimat geworden.
Dass ich diese Chance habe, mich in zwei so verschiedenen Orten zu Hause zu fühlen macht mich so glücklich. Oft werde ich gefragt, ob ich Deutschland oder Brasilien lieber mag. Diese Frage kann ich jedoch nicht eindeutig beantworten, weil diese beiden Länder so verschieden sind und jedes Land seine eigenen schönen und weniger schönen Seiten hat.
Jedoch kann ich sagen, dass ich mich von Anfang an in Brasilien verliebt habe und nicht will, dass die Zeit so schnell vergeht, wie es momentan der Fall ist. Doch da ich das nicht ändern kann, muss ich einfach den Moment leben, alle Möglichkeiten nutzem und meine Zeit hier genießen. Oft sind es die kleinen Dinge, die einen am glücklichsten machen.
Und das vielleicht Wichtigste, was ich hier bisher gelernt habe ist, dass egal wie schlecht ein Tag gewesen sein mag, es kommt auch immer wieder ein besserer beziehungsweise unglaublich toller Tag. Man muss nur immer weiter nach vorne gucken und darf nicht aufgeben.

Ich bin so dankbar diese einmalige Möglichkeit erhalten zu haben.

Ganz liebe Grüße aus dem sonnigen Brasilien,
Lorina